Lesepredigt zum Sonntag Judica, dem 29.03.20

Lesepredigt zum Sonntag Judica, dem 29.03.20

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem himmlischen Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Predigttext Hebräer 13,12-14

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

 Jesus hat gelitten.

Draußen vor den Toren der Stadt Jerusalem auf dem Hügel Golgatha. Im sicheren Abstand zur der »heilen und geordneten Welt«.

Wer will schon das Sterben anderer vor der eigenen Haustüre erleben?

Wer will schon die Schreie der Sterbenden hören, ihr Röcheln und Stöhnen?

Wer will schon in ihre schmerzverzerrten Gesichter sehen – und das Blut!?

Nein, das will keiner vor der eigenen Haustüre haben.

Als Pilatus fragt: »Was soll ich mit Jesus machen?« da schreien sie alle: Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! Und bei sich sagten sie: Aber bitte mache es draußen. Weit weg. Dort- wo ich das Leid nicht sehe. Sonst könnte es sein, dass ich erkennen muss, wofür ich verantwortlich bin.

Jesus hat gelitten. Draußen vor den Toren der Stadt.

Wo man die verscharrt, die außerhalb der Gesetze leben. Wo man seinen Müll ablädt.

Wo die Aussätzigen sind. Die Kranken.

Wo die Flüchtlingsheime stehen und die Obdachlosen hausen.

Jesus hat gelitten. Draußen vor den Toren der Stadt.

Vor dem Haus, in dem unter anderem eine junge Familie wohnt mit ihrem behinderten Kind.

Manchmal zuckt das Kind plötzlich zusammen, stößt ungewöhnliche Laute aus, schreit Unverständliches. Für die Nachbarn ist das manchmal schwer auszuhalten. Bewunderung für die Geduld der Eltern, ja. „Woher die nur die Kraft nehmen, für diesen aufopfernde Liebe zu ihrem Kind?“ Und zugleich fragen Sie: Wäre das Kind nicht besser aufgehoben in einer Einrichtung für behinderte Menschen, draußen vor der Stadt?

Jesus hat gelitten. Draußen vor den Toren der Stadt.

Vor dem Haupteingang der Schule. Wo das Mädchen steht, der sich nicht hinein traut. Irgendwer ihrer Klassenkameraden hat im Internet ein Video veröffentlicht. Eine Frau in einer erniedrigenden sexuellen Pose – mit ihrem Gesicht. Es hat sich schnell herumgesprochen und viele haben sich den Clip auf ihrem Handy angeschaut.  Eine böswillige Fotomontage, aber jeder schaut sie jetzt verächtlich an.

Jesus hat gelitten. Draußen vor den Toren der Stadt.

Vor dem Altenwohnheim. Da wo so viele Bewohner sind, die glauben, sie wären nur vorübergehend dort. Ein bisschen Pflege. „Ich werde hier wieder aufgepäppelt und dann gehe ich wieder nach Hause!“ Was soll ich hier? Hier kenne ich doch keinen? Ich will wieder in meinem Viertel leben, mit dem türkischen Kaufmann an der Ecke, mit den Menschen, die mir seit so vielen Jahren vertraut sind.

Draußen vor den eigenen Türen ist der Ort des Leids.

Da ist Jesus. Da leidet er, da leidet er mit. Draußen vor der Tür ist Gott gegenwärtig.

Christus hat gelitten. Draußen vor den Toren der Stadt. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager. Lasst und mit Christus gehen. Raus aus Sicherheit und Gewohnheit, aus Mutlosigkeit und Angst, aus Bequemlichkeit und Nicht-wahrhaben-wollen. Lasst uns hinausgehen zu Christus, lasst und dorthin gehen, wo Jesus heute wäre:

zu den wunden Punkten unserer Städte, unserer Dörfer. Zu den wunden Punkten des Lebens.

Lasst uns hinausgehen – damit wir uns finden:

„Wer bin ich? Wer kann ich sein?“

Lasst uns hinausgehen, damit wir die Mitte finden, den Sinn unseres Daseins: „Wozu bin ich da? Wozu bin ich fähig?“

Das Leid findet ja nicht einfach »draußen« statt, woanders.

Immer da, wo ich hoffentlich gerade nicht bin.

Es gibt doch gar kein Drinnen, in dem ich sicher bin.

Keine heile Welt, vor der Leid und Elend halt machen.

Das Leid ist da, mittendrin. Auch mittendrin in meinem Leben.

Ja, es ist schwer auszuhalten – das eigene Leid, das Mitleiden mit den Vielen, von dessen Leiden ich durch die Medien erfahre. Darum wird das Leid so oft ausgeblendet und verharmlost: „Das wird schon wieder!“ Da muss ich jetzt durch!“

Das Leid wird versteckt, an den Rand gedrängt, geleugnet, vertuscht, übersehen.

Und plötzlich gibt es doch ein Draußen:

Das Leiden ist nicht gut. Es gibt doch Orte, das gehört das Leiden hin.  Aus dem Blick, aus dem Sinn.

Menschen werden einsam in ihrem Leid, gehören nicht mehr dazu:

Der Vater lächelt, als sein Sohn ihn im Krankenhaus besucht. »Mir geht es heute schon viel besser. Nächste Woche bin ich vielleicht schon wieder zu Hause. Mach dir um mich mal keine Sorgen.« Als der Sohn gegangen ist, laufen dem Vater Tränen über die Wangen. Sie haben neue Metastasen gefunden. Er wird nicht mehr nach Hause kommen. Er weiß es, aber er traut sich nicht, es zu sagen. Er will es seinem Sohn nicht zumuten. Er verschweigt seine Not. Er versteckt sein Leid. Und auf einmal ist er unendlich allein. Draußen. Der Sohn geht über den Parkplatz, setzt sich in sein Auto. Und fährt lange nicht los. Ganz deutlich hat er gespürt, dass sein Vater ihm etwas vormacht. Was, wenn er nicht mehr nachhause kommt? Er hat solche Angst um ihn. Aber er traut sich nicht, es zu sagen. Er will es seinem Vater nicht zumuten. Er verschweigt seine Not. Er versteckt sein Leid. Und auf einmal ist er unendlich allein.

Draußen – vor den Toren des Landes

Er war ein Flüchtling. Und er wohnte unter uns. Damit er ein faires Verfahren bekommt auf Asyl.  Die Gemeinde nahm ihn ins Kirchenasyl. Und er bekam die Aussicht auf ein faires Asylverfahren.

Aber bis dahin soll er abgeschoben werden in sein Heimatland, wo ihm Schaden droht an Leib und Seele.  Nun ist er wieder Flüchtling. Draußen vor den Toren unseres Landes. Auf der Suche nach einer bleibenden Stadt.

Draußen  – sind zur Zeit auch alle die, die unter Verdacht stehen, das Virus zu haben.

Oder die, die einem Menschen nahe stehen, bei dem der Verdacht schon bestätigt ist.

Draußen vor der Tür, das kann auch heißen,

häusliche Quarantäne, oder  Isolierstation im Krankenhaus, wo das lebensrettende Beatmungsgerät bereitgehalten wird.

Draußen bleiben heißt es für viele Menschen, die nicht zu ihren sterbenden Angehörigen dürfen. Keine liebevolle Geste, kein letztes Wort mehr miteinander, kein Abschiednehmen.

Wo ist Gott in all den Situationen draußen vor meiner und deiner Tür?

Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot, um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

So dichtete Dietrich Bonhoeffer in der Zeit seiner Haft, den Tod vor Augen.

Er hatte keine Angst. Denn Gott war ja immer schon da. Draußen und Mittendrin in seinem Leben und in seinem Leiden.

Lasst uns nun hinausgehen aus dem Lager. Hinaus aus den oft trügerischen  Sicherheiten.

Lasst uns hinausgehen, das Leid aufdecken, Es anschauen und es sichtbar machen. Es ernst nehmen, aushalten und lindern.

Lasst uns hinausgehen – damit wir die Mitte finden: Gott in unserer Nähe, in uns.

Das Leid findet nicht woanders statt, sondern mitten unter uns. Aber die Menschen, denen das Leben schwer ist – die sind oft draußen, abseits.

Menschen in Armut. Einsame Menschen. Menschen ohne Perspektive. Ohne Ausbildung. Menschen, die ihr Leid verstecken. Menschen, die übersehen werden. Menschen, die ihr Leid isoliert.

Es ist schwer, dem Leid entgegenzutreten. Dem Leid am Rand. Dem Leid mittendrin. Dem Leid der anderen. Dem eigenen Leid.

Wenn wir dem Leid entgegentreten, müssen wir unsere Sicherheiten aufgeben. Wenn wir hinausgehen, die Augen öffnen und dem Leid ins  Angesicht sehen, begegnen wir der Zerbrechlichkeit des Lebens, auch der Zerbrechlichkeit unseres eigenen Lebens.

Wenn wir hinausgehen und uns dem Leid aussetzen, liefern wir uns aus. Wir spüren unsere Ohnmacht und müssen aushalten, dass wir nichts tun können.

Jesus hat gelitten draußen vor den Toren.

So lasst uns nun hinausgehen zu ihm. Wer hinausgeht vor das Tor, wer sich dem Leid aussetzt, begegnet Christus. Gott ist immer schon da.

Jesus ist hinausgegangen. An die Ränder der Gesellschaft. Vor die Tore der Stadt. Er isst mit den Außenseitern, mit den Sündern und Zöllnern, mit Ehebrechern und Ungläubigen. Er teilt sein Brot mit dem, der ihn verrät. Er gibt den Hungernden zu essen, schenkt den Aussätzigen berührende Nähe, öffnet den Blinden die Augen.

Gott ist immer schon da.

Wer hinausgeht vor das Tor, wer sich dem Leid aussetzt, begegnet Christus. In ihm ist Gott gegenwärtig.

Und doch bleibt der Schmerz, die Verzweiflung,  und mit ihm die Sehnsucht: Die Sehnsucht nach einer Welt, in der das Leid aufgehoben ist, das Geschrei verstummt, der Schmerz gestillt. Wir gehen hinaus, vor die Tore, an die Orte des Schmerzes. Aber dies wird nicht der letzte Ort sein. Gott ruft uns weiter. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Amen.

„Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“

Psalm 43